KI-Transformation im Einzelhandel 2026: Ergebnisse der G2N-Studie
Publicis Sapient hat mit dem „Guide to Next 2026“ [PDF] eine umfangreiche Analyse zur technologischen Entwicklung im Handel vorgelegt. Die G2N-Retail-Studie zeigt, wie stark Unternehmen weltweit in KI investieren – und wie groß zugleich die strukturellen Defizite in Dateninfrastruktur, Governance und Skalierungsfähigkeit bleiben. Trotz hoher Investitionsbereitschaft droht vielen Händlern ein „Meer der Austauschbarkeit“, wenn KI-Systeme primär Effizienz optimieren, aber Markenspezifik vernachlässigen.
KI-Transformation im Einzelhandel 2026: Zwischen Anspruch und Realität
Inhaltsverzeichnis
Die zentrale Erkenntnis der G2N-Studie lautet: Der Handel steht an der Schwelle zur vollständigen KI-Durchdringung, jedoch bestehen erhebliche Lücken zwischen Selbstwahrnehmung und technischer Reife.
Laut Studie sehen 90 Prozent der befragten Retail-Entscheider KI als strategische Priorität. 100 Prozent investieren bereits in KI-Agenten oder planen entsprechende Schritte. Dennoch zeigen die Daten, dass nur ein kleiner Teil der Händler über robuste Strukturen zur Skalierung verfügt.
Die Diskrepanz zeigt sich besonders deutlich bei der Bewertung der eigenen Fähigkeiten:
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- 83 Prozent halten ihre Dateninfrastruktur für skalierungsfähig, aber nur 29 Prozent sind extrem zuversichtlich.
- 78 Prozent glauben, ihre KI-Initiativen erzeugen markentypische Kundenerlebnisse; tatsächlich enkodieren nur 48 Prozent die Markenidentität konsistent.
- 52 Prozent fühlen sich gut vorbereitet auf Agent-to-Agent-Verhandlungen – obwohl diese Technologie aktuell noch gar nicht existiert.
Dabei bleibt ein grundlegendes Problem: Viele Manager verwechseln den Einsatz einzelner Tools wie ChatGPT oder Machine-Learning-Anwendungen mit echter KI-Integration.
Pilot Purgatory: Die unterschätzte Skalierungsfalle
Obwohl Investitionen steigen, bleiben die meisten KI-Projekte in Pilotphasen stecken. Laut G2N-Analyse sind nur 30 bis 40 Prozent der KI-Anwendungsfälle unternehmensweit skaliert. Vielmehr dominieren isolierte Abteilungsprojekte, die keinen messbaren Einfluss auf die Gesamtorganisation haben.
Eine ergänzende Untersuchung der Financial Times zeigt, dass viele Unternehmen ihre KI-Strategien öffentlich kommunizieren, jedoch kaum belastbare ROI-Nachweise erbringen. Oft treibt FOMO („Fear of Missing Out“) die Investitionen – nicht eine klare ökonomische Zielsetzung.
Dateninfrastruktur bleibt die Achillesferse des Handels
Der größte Engpass für KI-Transformation im Einzelhandel liegt in der technischen Architektur. Viele Händler kämpfen mit veralteten Systemen, fehlenden Standards und fragmentierten Datenquellen.
Die Studie identifiziert mehrere strukturelle Hemmnisse:
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- Integrationsprobleme (41 Prozent): Eine unverbundene Systemlandschaft verhindert unternehmensweite KI-Modelle.
- Datenqualität (36 Prozent): Inkonsistente Stammdaten oder fehlerhafte Produktinformationen bremsen automatisierte Prozesse.
- Governance-Lücken (40 Prozent): Fehlende Richtlinien erhöhen Risiken für Compliance und Markenschutz.
- Talent-Knappheit und unklarer ROI (je 36 Prozent): Fähigkeiten und Business Cases fehlen oft zugleich.
Ohne konsistente Produktdefinitionen, einheitliche Kundendaten und verfügbares Echtzeit-Inventory bleibt selbst eine leistungsfähige KI nur eingeschränkt nutzbar.
Governance-Defizite: Warum KI ohne Leitplanken zur Gefahr wird
Die G2N-Studie zeigt, dass viele Händler zwar massiv in KI investieren, aber bei der Governance hinterherhinken. Nur 49 Prozent verfügen über etablierte Prozesse zur Sicherstellung markenkonformer KI-Outputs.
Fehlen klare Leitplanken, optimieren Systeme häufig für dieselben Ziele: Preis, Geschwindigkeit oder Effizienz. Das Resultat ist eine Angleichung der Kundenerlebnisse – ein „Meer der Austauschbarkeit“.
Die Autoren warnen vor einem drohenden Cost-Optimization-Kollaps: Wenn alle Händler ihre KI auf identische Ziele ausrichten, verlieren Marken ihre Unterscheidbarkeit.
Agentic AI: Hohe Erwartungen, geringe technische Reife
Der Einsatz autonomer KI-Agenten gilt als nächste Entwicklungsstufe im Handel. Die Studie zeigt, dass:
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- 100 Prozent der Retailer bereits investieren oder investieren wollen,
- 52 Prozent der Entscheider sich gut auf Agent-to-Agent-Verhandlungen vorbereitet fühlen,
- gleichzeitig aber kein einziges Unternehmen technisch tatsächlich bereit ist.
Der Grund ist einfach: Echt autonome, verhandlungskompetente KI-Agenten existieren auf marktfähigem Niveau noch nicht. Technologien wie ChatGPT Commerce geben nur erste Hinweise darauf, wie künftige Systeme funktionieren könnten – sie ermöglichen jedoch noch keine markenkontrollierten Agent-Ökosysteme.
Decision Debt: Optimismus ohne Verifikation
Ein wiederkehrendes Muster der Studie ist der „Decision Debt“. Gemeint ist die wachsende Lücke zwischen kommunizierten KI-Erfolgen und tatsächlichen organisatorischen Voraussetzungen.
Wenn Governance, Datenqualität und Messsysteme nicht Schritt halten, häufen sich Fehlentscheidungen, die langfristig zu Wettbewerbsnachteilen führen können.
Regionale Unterschiede: USA und UK führen, Deutschland bleibt zurück
Die G2N-Daten zeigen deutliche Unterschiede zwischen den untersuchten Märkten:
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- USA (50 Prozent) und UK (47 Prozent) investieren überdurchschnittlich stark in KI.
- Deutschland (29 Prozent), Frankreich (31 Prozent) und Australien (23 Prozent) folgen mit deutlichem Abstand.
- Bei Markendifferenzierung als KI-Ziel liegt Deutschland mit 39 Prozent hinter den führenden Märkten.
- Die UK erreichen mit 53 Prozent die höchste Messbarkeit von Markendistinktheit, Frankreich bleibt mit 25 Prozent deutlich zurück.
Diese Unterschiede spiegeln variierende KI-Reifegrade und unterschiedliche Investitionslogiken wider. Besonders die Integration von Markenidentität in KI-Systeme entwickelt sich je nach Region sehr unterschiedlich.
Marken müssen KI-Systeme strategisch prägen
Die G2N-Studie unterstreicht, dass die technologischen Grundlagen für die KI-Transformation im Einzelhandel grundsätzlich vorhanden sind. Entscheidend wird jedoch, wie Händler ihre Markenwerte in KI-Systeme übertragen.
Publicis-Sapient-Expertin Agnes Bührmann betont, dass Marken ohne klare Leitlinien Gefahr laufen, im Wettbewerb über den reinen Preis zu konkurrieren. Mit dem „Agentic Retail Network“ stellt das Unternehmen ein Framework vor, das Händlern helfen soll, markendistinkte Agenten aufzubauen und die Skalierungsfalle zu überwinden.
Faktenbox
| Kernfakten zur KI-Transformation im Einzelhandel | |
|---|---|
| KI als strategische Priorität | 90 Prozent der Retailer |
| Investitionen in KI-Agenten | 100 Prozent planen oder investieren |
| Extrem hohe Zuversicht in Datenqualität | Nur 29 Prozent |
| Markenkonsistenz in KI-Systemen | 48 Prozent |
| Technische Bereitschaft für Agent-to-Agent-Commerce | 0 Prozent |