EU-Lieferkettengesetz massiv abgeschwächt: Einigung auf neue Grenzwerte in Brüssel
In einer richtungsweisenden Entscheidung haben sich Unterhändler der EU-Staaten und des Europaparlaments in der Nacht zum Dienstag auf eine deutliche Entschärfung der Vorgaben für das europäische Lieferkettengesetz geeinigt. Das Vorhaben, das ursprünglich dazu gedacht war, Menschenrechte und Umweltstandards in globalen Wertschöpfungsketten verbindlich zu schützen, wird in seiner Reichweite drastisch reduziert. Kritiker sprechen von einem „schwarzen Tag“ für den Menschenrechtsschutz, während Wirtschaftsvertreter und konservative Politiker die Entlastung von bürokratischen Hürden begrüßen.
Die Einigung erfolgte nach monatelangen politischen Auseinandersetzungen und markiert eine Zäsur in der europäischen Gesetzgebung. Das Lieferkettengesetz wird nun in einer Form kommen, die weit hinter den ursprünglichen Entwürfen der EU-Kommission zurückbleibt.
Neue Schwellenwerte für das Lieferkettengesetz
Inhaltsverzeichnis
Der Kern der nächtlichen Einigung betrifft den Anwendungsbereich der Richtlinie. Während ursprüngliche Pläne vorsahen, dass Unternehmen ab einer Größe von 1.000 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von 450 Millionen Euro betroffen sein sollten, wurden diese Grenzen nun massiv nach oben korrigiert. Das neue Lieferkettengesetz soll künftig nur noch für Großunternehmen gelten, die mehr als 5.000 Mitarbeiter beschäftigen und einen Jahresumsatz von mindestens 1,5 Milliarden Euro vorweisen.
Durch diese Anhebung der Schwellenwerte fällt der Großteil der europäischen Unternehmen, die zuvor im Fokus der Regulierung standen, aus dem Raster. Experten schätzen, dass die Anzahl der direkt betroffenen Firmen durch diese Änderung auf einen Bruchteil der ursprünglich geplanten Menge sinkt. Das Ziel der Neuregelung ist es, den Mittelstand und auch größere mittelständische Betriebe vor den komplexen Berichtspflichten und Überprüfungsmechanismen zu schützen, die das Lieferkettengesetz mit sich bringt. Wirtschaftsverbände hatten im Vorfeld immer wieder gewarnt, dass die bürokratische Last für Unternehmen unterhalb der absoluten Konzernobergrenze kaum zu bewältigen sei.
Wegfall der zivilrechtlichen Haftung
Ein weiterer zentraler Punkt der Abschwächung betrifft die rechtlichen Konsequenzen bei Verstößen. In den ursprünglichen Entwürfen war eine zivilrechtliche Haftung vorgesehen. Dies hätte bedeutet, dass Betroffene von Menschenrechtsverletzungen – etwa Opfer von Zwangsarbeit oder Enteignung in Zulieferbetrieben – die profitierenden europäischen Unternehmen vor EU-Gerichten auf Schadenersatz hätten verklagen können. Diese Möglichkeit wurde nun gestrichen.
Unternehmen, die gegen die Sorgfaltspflichten des Lieferkettengesetzes verstoßen, unterliegen auf EU-Ebene keiner zivilrechtlichen Haftung mehr. Damit entfällt das wohl schärfste Schwert der ursprünglichen Richtlinie. Stattdessen setzt die EU auf behördliche Sanktionen. Wenn sich Unternehmen nicht an die Vorgaben halten, können nationale Aufsichtsbehörden Strafen verhängen. Diese sollen maximal drei Prozent des weltweiten Nettoumsatzes des betroffenen Konzerns betragen.
Zusätzlich entfällt die Pflicht für Unternehmen, im Rahmen des Gesetzes Handlungspläne für Klimaziele auszuarbeiten. Auch dieser Punkt war lange Zeit ein Streitfall zwischen den grünen und linken Fraktionen auf der einen Seite und den konservativen sowie wirtschaftsliberalen Kräften auf der anderen Seite.
Politische Hintergründe und die Rolle von Kanzler Merz
Der jetzigen Einigung ging ein heftiger politischer Schlagabtausch voraus, der auch durch den Regierungswechsel in Deutschland beeinflusst wurde. Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hatte sich seit seinem Amtsantritt im Mai 2025 deutlich gegen die ursprüngliche Fassung der Richtlinie positioniert. Bei seinem Antrittsbesuch in Brüssel forderte Merz sogar eine komplette Abschaffung der Richtlinie. Als ein erster Kompromissversuch im Europaparlament scheiterte, bezeichnete der Kanzler dies als „inakzeptabel“ und drängte auf Korrekturen.
Die Durchsetzung der abgeschwächten Version wurde im Europaparlament durch eine neue Mehrheitsfindung ermöglicht. Die konservative Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP), zu der auch CDU und CSU gehören, suchte und fand Unterstützung bei rechten und rechtsextremen Parteien, um die Änderungen durchzusetzen. Diese Zusammenarbeit abseits der sonst üblichen informellen Koalition aus EVP, Sozialdemokraten und Liberalen sorgte für erhebliche Spannungen im parlamentarischen Betrieb. Das Lieferkettengesetz gilt als eines der ersten großen Gesetzesvorhaben, das final mit einer solchen Rechts-Mehrheit gestaltet wurde.
Reaktionen und Kritik am neuen Lieferkettengesetz
Die Reaktionen auf die Einigung fallen erwartungsgemäß gespalten aus. Vonseiten der Sozialdemokraten und Grünen hagelt es scharfe Kritik. Der SPD-Europaabgeordnete Tiemo Wölken bezeichnete das Ergebnis als einen „schwarzen Tag für Europa“. Menschenrechte und Klimaschutz seien zur „billigen Verhandlungsmasse“ degradiert worden. Wölken kritisierte zudem die politische Taktik der Konservativen und warf ihnen vor, einen Kompromiss mit den demokratischen Kräften durch eine „Erpressungstaktik“ verhindert zu haben.
Ähnlich drastisch äußerte sich die Grünen-Abgeordnete Anna Cavazzini. Sie erklärte, die Konservativen und die EU-Mitgliedstaaten hätten „den letzten Nagel in den Sarg des EU-Lieferkettengesetzes geschlagen“. Aus Sicht der Kritiker verkommt das Gesetz durch die hohen Eintrittsschwellen und die fehlende Haftung zu einem reinen Papiertiger, der an den realen Bedingungen in den Produktionsländern des globalen Südens – etwa Kinderarbeit in Textilfabriken oder auf Plantagen – kaum etwas ändern wird.
Wirtschaftliche Argumente: Bürokratie vs. Verantwortung
Die Befürworter der Abschwächung, insbesondere aus den Reihen der Union und der Wirtschaftsverbände, sehen in dem Ergebnis hingegen einen Sieg der Vernunft. Ihr Hauptargument gegen das ursprüngliche Lieferkettengesetz war stets die praktische Umsetzbarkeit. In komplexen globalen Lieferketten sei es für ein europäisches Unternehmen oft unmöglich, jeden einzelnen Schritt bis zur Rohstoffgewinnung lückenlos zu überwachen.
Die nun beschlossene Beschränkung auf sehr große Unternehmen mit mehr als 5.000 Mitarbeitern soll sicherstellen, dass nur jene Konzerne in die Pflicht genommen werden, die über entsprechende administrative Ressourcen verfügen. Zudem wird argumentiert, dass die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft in einer angespannten globalen Lage nicht durch übermäßige Bürokratie gefährdet werden dürfe.
Ausblick auf das weitere Verfahren
Die Einigung der Unterhändler muss nun noch formal vom EU-Parlament und den Mitgliedstaaten bestätigt werden. Angesichts der vorangegangenen Verhandlungen gilt dies jedoch als reine Formsache. Das Lieferkettengesetz wird somit in der nun vorliegenden, stark abgeschwächten Form in Kraft treten.
Für die betroffenen Großunternehmen beginnt damit eine Phase der Anpassung, auch wenn der Kreis der Adressaten deutlich kleiner ist als angenommen. Für die politische Landschaft in Europa könnte die Art und Weise, wie dieser Kompromiss zustande kam – nämlich durch das Aufweichen der Brandmauer nach Rechts im Parlament – jedoch langfristigere Folgen haben als das Gesetz selbst. Die Debatte darüber, wie viel Regulierung die Wirtschaft verträgt und wie viel Verantwortung Europa für globale Standards übernehmen muss, ist mit diesem Beschluss nicht beendet, sondern lediglich neu justiert worden.
Faktenbox
| Eckdaten zum neuen EU-Lieferkettengesetz | |
|---|---|
| Geltungsbereich (Mitarbeiter) | Unternehmen ab 5.000 Mitarbeitern (zuvor geplant: 1.000) |
| Geltungsbereich (Umsatz) | Mindestens 1,5 Mrd. Euro Jahresumsatz (zuvor geplant: 450 Mio.) |
| Zivilrechtliche Haftung | Entfällt vollständig (keine Klagemöglichkeit für Opfer) |
| Sanktionen | Geldstrafen bis max. 3 % des weltweiten Nettoumsatzes |
| Klimapläne | Keine Pflicht zur Erstellung von Handlungsplänen für Klimaziele |
| Politischer Kontext | Durchgesetzt von EVP mit rechten Fraktionen; Druck durch Kanzler Merz |